Wo der Mönchspfeffer wächst

Die uralte Tradition der Heilpflanzenkunde wird auf Kreta bewahrt: Eine Kräuterexkursion mit Marianna Founti-Vassi

Von Ute Koenen

Kreta, Anfang Mai, Mittag in einem kleinen Gebirgsdorf. Maroulas heißt der Ort oberhalb von Rethymnon. Auf dem sonnenwarmen Dorfplatz mit der winzigen, orthodoxen Kapelle streiten und lärmen die Spatzen. Bewohner sind um diese Zeit nicht zu sehen. Wir, das sind sieben Erwachsene aus der Gegend um Trier, suchen einen schattigen Platz fürs Picknick. Wenige Schritte von der Platia entfernt, in einer schmalen Straße, ist der Laden „Mariannas Workshop“, mit dessen Besitzerin wir später zu einer Kräuterwanderung verabredet sind. Mal sehn ob sie uns einen schönen Rastplatz zeigen kann. Die Ladentür steht offen, Marianna Founti-Vassi ist da und empfiehlt uns am Dorfrand den Brunnen unter der riesigen Platane.
Es geht durch enge Gässchen und alte venezianische Torbögen talwärts. Nach wenigen Minuten erreichen wir einen traumhaft schönen, kühlen Rastplatz, umgeben von saftig grünen Bäumen, Sträuchern und Waldwiese. Ein Ort zum wohl fühlen und entspannen, Wasser plätschert, Vögel zwitschern und singen. Picknick aus dem Rucksack, Siesta.
Nun ist es aber Zeit für die Verabredung mit Marianna. Also wieder hinauf ins Dorf. Auf dem Weg begegnen uns Kinder die aus der Schule kommen, zwei Jungs knattern auf einem Moped die steile enge Straße an uns vorbei. Eine alte Frau sitzt auf der Türschwelle zu ihrem Hof im Schatten und schaut uns neugierig nach. „Das können nur Deutsche sein, die in der Hitze zu Fuß unterwegs sind“, scheint sie zu denken.

Marianna bittet uns in ihren winzigen, von intensivem Kräuterduft durchzogenen Laden. Zur Einstimmung auf die Wanderung zeigt und erläutert sie wichtige Heil-Pflanzen, die frisch geerntet und gebündelt auf dem Arbeitstisch liegen: Salbei, Rosmarin, Oregano. Aus ihnen und vielen anderen Pflanzen, wie Bergamotte (eine Zitrusfrucht), Ringelblume, Johanniskraut, Lorbeer, Pinie, Zypresse stellt sie Teemischungen und Öle her. Dazu muss sie die frischen und sauberen aromatischen Pflanzen in der Umgebung von Maroula zum richtigen Zeitpunkt ernten und gut trocknen. Für die Ölextrakte füllt sie die Kräuter in Glasbehälter, übergießt sie mit Oliven- oder Mandelöl und setzt sie zirka sechs Wochen der Sonne aus. Dann heißt es schütteln, immer wieder schütteln, bis das aromatische Öl gefiltert und in kleine braune Pipettenflaschen gefüllt werden kann. Die Teemischungen stellt sie je nach Heil- und Verwendungszweck selbst zusammen.

Den auf dem Kreta heiß begehrten endemischen, das heißt  nur dort vorkommenden, Diktamnus können wir als Topfpflanze betrachten. In der freien Natur wächst er an sehr unzugänglichen Stellen, an steilen, kargen Felswänden und Schluchten. Trotzdem wurde er fast ausgerottet, ein dem alpinen Edelweiß ähnliches Schicksal. Inzwischen wird diese endemisch Pflanze gezielt als Nutzpflanze angebaut.

Mariannas Vortrag spricht alle Sinne an. Für Nase und Haut gibt es tropfenweise Proben der verschiedensten Pflegeöle und –extrakte. Und die passenden Anwendungstipps vermittelt sie direkt dazu.
Ihr Wissen hat die 49-jährige in Athen geborene, studierte Psychologien, während vieler Reisen durch Europa, Nordafrika und Asien gesammelt. „Meine große Liebe gilt Kindern und Pflanzen. Nach dem Studium in Paris und zehn Jahren Arbeit mit Kindern wollte ich auch meine zweite Liebe verwirklichen. Ich war auf der Suche nach alternativen Heilmethoden, wollte zurück zur Naturmedizin. Also habe ich mich auf die Suche begeben, und Kontakt zu Menschen aufgenommen, die noch über traditionelles Heilwissen verfügen. Diese Suche führte mich durch viele Länder und schließlich zogen mein Mann und ich vor 18 Jahren nach Kreta. Die Wahl fiel auf Kreta, weil dort die seit alter Zeit bekannten Heilmittel und -methoden immer noch angewandt werden. So wurde ich zur Sammlerin und Bewahrerin fast vergessenen Wissens der Naturheilkunde.“

„Beginn einer glücklichen Zeit!“

So mit Wissen und Duft gestärkt ziehen wir los. „Welchen Weg möchtet Ihr gehen?“, fragt die zweifache Mutter, „lieber in der Sonne oder im Schatten?“ Wir entscheiden uns für die schattige Variante und biegen gleich hinter den Häusern in einen von Sträuchern begleiteten Weg.
 „Hier in Maroulas ist die Umwelt noch weitgehend frei von chemischen Rückständen und gesundheitsschädlichen Einflüssen, deswegen sind wir vor elf  Jahren in dieses ursprünglich venezianische Dorf gezogen. Es war eine gute Entscheidung, der Beginn einer glücklichen Zeit, weil ich draußen die Pflanzen studieren und meine Versuche mit ihrer Anwendung machen kann. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht und kann mit dem Verkauf der Tees und Öle zum Lebensunterhalt meiner Familie beitragen“, erklärt sie ihre Entscheidung für ein Leben jenseits ihrer Geburtsstadt Athen. „Inzwischen arbeite ich mit Ärzten und Heilkundigen zusammen, sie schicken mir ihre Patienten und wir tauschen Erfahrungen aus. Meine Tees, Öle und Elixiere verkaufe ich auch in anderen Orten.
Aber wie die meisten in unserem 150-Seelen-Dorf haben  mein Mann und ich mehrere Jobs um leben zu können.“

Vielfältige Pflanzenwelt

Wir sind an einem Olivenhain angekommen, irgendwo bimmeln Schafglöckchen. „Olivenanbau und Schafzucht sind die Haupteinkommensquellen hier, dazu noch der ein oder andere Job, damit es zum leben reicht“, erklärt Marianna. Und kommt zum eigentlichen Thema des Spaziergangs, den Heilpflanzen. Um uns herum stehen Oliven, Johannisbrotbaum, Styraxstrauch, Weiß- und Feuerdorn, Zypressen, Steineiche und Holunder. Aus den Blättern des Olivenbaums lässt sich ein Aufguss herstellen der entgiftend wirken soll. Die Anwendungsmöglichkeiten von Weiß- und Feuerdorn und Holunder sind die gleichen wie in unseren Breiten.
Die reifen Schoten des Johannisbrotbaums ergeben mit Zucker zu Sirup gekocht einen Hustensaft. „Jedes Jahr gibt es ein Wettrennen zwischen den Schafen und mir“, erzählt lachend Marianna, „wer zuerst die heruntergefallen Schoten des Baums findet“.
Die weißen Blüten des Styraxstrauchs erinnern ein wenig an Sternchen. „Von diesem Strauch gewinnt man Harz, das man wie Weihrauch zum räuchern nutzt“, erklärt Marianna. Und von der Eiche weiß sie, dass die gut für Herz und Blutdruck ist. Zypressen sind auch auf Kreta Symbolpflanzen für das ewige Leben und oft bei Friedhöfen zu finden. Medizinisch gilt sie als reinigend und entwässernd, als Extrakt soll sie gegen Pigmentflecken und bei Cellulitis helfen.

Einige Meter weiter ist der Weg wieder sonniger und hier wachsen auf der trockenen Böschung die aromatischen Vertreter der kretischen Flora. Salbei kennt eigentlich jeder. Die filzigen Blätter verströmen beim reiben einen süß-herben Duft. „Lassen sie die Blätter nicht länger in kochendem Wasser liegen, sonst wird der Tee bitter“, rät die Expertin, und empfiehlt ihn zur Kräftigung des Zahnfleischs.
Dazwischen und daneben wächst der rosa blühende einheimische Thymian. Er besitzt ein besonders intensives Aroma und ist heilsam bei Entzündungen von Hals, Nase und Atemwegen. Überall in den Bergen sieht man inmitten der blühenden Kräuterwiesen Bienenstöcke stehen, dort entsteht der Thymianhonig, eine der kulinarischen Spezialitäten, sehr lecker in Kombination mit dem dicken, gehaltvollen Joghurt – mmh!
Dann der Oregano! Es gibt mehrere Sorten auf Kreta. Er hilft bei Bronchitis, ist antiseptisch und wurde früher als vorübergehendes Hilfe bei Zahnschmerzen genutzt. „Sammeln sie Kräuter bei Sonnenschein und kurz bevor die Blüten aufgehen, dann enthalten sie die meisten ätherischen Öle“, verrät Marianna wieder eines der alten Pflanzengeheimnisse.
Bei Rosmarin, Malve, Spitzwegerich fällt ihr die alte Volksweisheit: „Mit einem Gemüsegarten und einem Beet Malven hat man Medizin für die ganze Familie“, ein. Ihre Empfehlung: „Versuchen sie mal ein Omelett mit diesen würzigen Kräutern. Gesund und lecker.“

Selbst die Disteln sind nützlich, einige Arten helfen bei Leberleiden. Schöner als die Disteln sind diese bis kniehohen, halbkugeligen Büsche über denen hauchzarte, zerknitterte rosa Blüten schweben: die Cistrose (Cistus creticus). Wieder eine endemische Pflanze. Sie hat rauhe, graugrüne Blätter. Ein Tee daraus schmeckt bitter, hilft aber bei Bronchitis, Asthma und beim Einschlafen. Die beblätterten Zweige werden auch als Räucherwerk genutzt. Auf die Frage ob die hübschen zarten Blüten auch genutzt werden, führt uns Marianna die extreme Kurzlebigkeit der Blüten vor: Kaum gepflückt fallen die Blütenblätter auseinander und vom Kelch. Unmöglich damit etwas anzufangen.

Weiter geht der Weg, nun wieder im Schatten. Hier finden sich Kamille, Melisse, wilde Ringelblume, und Weinraute. „Und diese Pflanze kennen Sie sicher von zu Hause?“, fragt sie in die Runde. „Genau, das ist Melisse, sie verhilft zu einem langen Leben“. Damit das lange Leben auch äußerlich schön bleibt zeigt sie uns die passende Pflanze: Ein Aufguss aus den Blättern der mit wunderschönen weißen Kelchblüten geschmückten Sumpfkalla, hilft beim Kampf gegen die Falten.
Auf dem Weg zum Endpunkt unserer kleinen Exkursion passieren wir Trockenmauern, in deren Fugen eine kleine rote fleischige Pflanze lebt: der Venusnabel. Ihr Heilgebiet sind Nierensteine.
Zu Ende geht die Tour am uns schon bekannten Brunnen unter der Platane. Zwischen den Bäumen findet Marianna einen Strauch der Mönchspfeffer genannt wird, Vitex agnus kastrus. Eine sagenumwobene Pflanze: mit den Ruten dieses  Strauchs soll Prometheus an den Felsen gefesselt worden sein, auch Odysseus hat die Ruten als Fesseln benutzt. Die runden Samen schmecken leicht scharf, pfefferähnlich, die Inhaltsstoffe sollen aber beruhigend und Hormon ausgleichend wirken.

Mit den Worten: „Ich hoffe, dass sie auf dem Weg hierher etwas lernen konnten. Ich möchte, dass die Menschen mit Hilfe der Natur Wohlbefinden und Gesundheit erlangen, bevor sie zur Chemie greifen. Es ist mir ein Anliegen dieses Wissen zu bewahren und zu vermitteln“, verabschiedet Marianna uns.